Dienstag, 29. August 2017

Anstand lernen

Axel Hacke
Das Titelthema der ZEIT vom 24 August "Plädoyer für den Anstand" ist Anregung für einen erneuten Leserbrief. Mir fehlen mögliche Maßnahmen, die den mir sympathischen Einsatz für Anstand umsetzbar machen. Im berufspädagogischen Studium hatte ich für ein Proseminar das Buch "Einfache Sittlichkeit" zu beschaffen, von dem aktuell zu lesen ist: < Im Antiquariat finde ich Otto Friedrich Bollnow, Einfache Sittlichkeit, Göttingen 1957. „Das liest heute keiner mehr. Und auch die Universität hat ihn vergessen. Auch die Philosophen und Pädagogen.“ > Soll es dem Essayisten Axel Hacke mit seiner Schrift "Über den Anstand" bald ähnlich gehen? Das wäre bedauerlich, denn wie der Autor richtig schreibt, "schwappt seit einer Weile nicht bloß eine Woge der Anstandslosigkeit um die Welt - es tobt ein Ozean. Das ist mehr als ein moralisches Problem. Auf dem Spiel steht das Funktionieren unserer Gesellschaft." 
Evangelisch erzogen, stellte sich mir schon sehr bald die Frage, was die Urkirche so stark wachsen ließ. Zwar entwickelte sie sich unter der römischen Herrschaft weiter, verlor aber die den Einzelmenschen als Kind Gottes fördernde Struktur, was schließlich zum Glaubensabfall und damit zum dunklen Mittelalter führte. -
Ich bin Mitglied in der 1830 durch den Propheten Joseph Smith wiederhergestellte Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und erlebe in ihr ähnliches Wachstum wie zu Christi Zeiten. Entscheidend für den Anstand ist dabei das persönliche Wachstum in einem Erfahrungsraum, der sich von Familie und Kirchengemeinde aus erschließt.
Familienfeier in Dossenheim
Das können beispielhaft Beobachtungen im Zusammenhang mit einem Familienfoto belegen, das am letzten Sonntag entstand. Wir feierten den 12. Geburtstag
unseres zweitältesten Enkelsohns und damit verbunden die Übertragung des Aaronischen Priestertums auf ihn sowie seine Ordinierung darin zum Diakon. Letztlich feierten wir seinen Übergang vom Kind zum Jugendlichen. Zunächst waren alle zwar sommerlich, aber doch nach unserem Verständnis anständig d.h. sonntäglich gekleidet. Auffallend sind die weißen Hemden und die Krawatten, die Priestertumsträger in der Kirche tragen, wenn sie dort amtieren
der junge Diakon
Von den Sonntagsversammlungen zurück, sehen wir Sohn und Vater sowie die beiden Großväter, dazu Mutter und Großmütter sowie die vier weiteren Geschwister. Wie wichtig uns dieses Familienereignis war, lässt sich vielleicht daran ablesen, dass meine Frau und ich den Urlaub in Dänemark, einen Tag früher als mit Freunden gebucht, abschlossen und mit dem Auto etwa 1000 km Anfahrtsweg hatten, während die beiden anderen Großeltern etwa 600 km mit der Bahn anreisten. 

Mit 8 Jahren, dem Alter der Verantwortlichkeit, werden Kinder getauft. Die damit verbundene Bündnisverpflichtung lautet: den Namen Christi auf sich zu nehmen und fortan als Christ zu handeln. Schulische Zeugnisvermerke beschreiben, dass sich alle schulpflichtigen Enkelkinder anständig benehmen und in die Klassengemeinschaft einfügen können sowie bemerkenswerte Bereitschaft zeigen, ihren Mitschülern zu helfen. Auch belegen überdurchschnittlichen Zensuren ihre Leistungsbereitschaft. Anstatt eines "täglichen Lebensgewurstel", wie Hacke das nennt, hat sich in Ansätzen schon ein Ideal als Maxime entwickelt, als Kind Gottes den Ansprüchen von Bürgern und Hausgenossen Gottes gerecht werden zu wollen. 
Das Aaronische Priestertum kennt die vier Ämter Diakons, Lehrer, Priester und Bischof. Keiner nimmt sich selbst die Ehre, sondern wird zu seinem Amt berufen und durch bevollmächtigte Priestertumsträger eingesetzt. In jedem Amt arbeitet er in der Regel zwei Jahre (der Bischof 5 Jahre). Der Diakon hat Aufgaben im Rahmen der Gemeinde zu erfüllen (z. B. Abendmahl austeilen, Anwesenheit zählen und Bote des Bischofs zu sein). Der Lehrer beteiligt sich als Juniorpartner an den monatlichen Heimlehrbesuchen, die er terminlich und inhaltlich vorbereiten darf. Er hat über die Kirche (ihre Lehre) zu wachen. Der Priester bereitet sich auf seine zweijährige Mission vor. Er darf in der Gemeinde das Abendmahl segnen und Täufer sein. Jede Altersgruppe bildet ein sich selbst fürsorglich verwaltendes Kollegium. Über das Priesterkollegium präsidiert der Bischof. So wird in konzentrischen Bahnen beständig eingeübt, was Hacke richtig formuliert: "Es geht, wenn wir von Anstand reden, um ... das Zusammenleben als Einzelner mit anderen - und dieses Zusammenleben bedeutet nicht, gegen andere anzukämpfen, sondern (zielführend, d.h. in die Gegenwart Gottes zurückführend) etwas für sie zu tun." Alles wird ehrenamtlich getan und ist mit Opfer an Zeit und Aufmerksamkeit für den Nächsten, der  "Bruder" oder "Schwester" ist, verbunden. Geschwister sind im Gegensatz zu Freunden nicht auswählbar. Der Nächste werden "alle Arten von Menschen sein." 
Nützlich ist hier ein absicherndes Nachschlagen in den Heiligen Schriften. Dort steht: "Ihre Stellung im Dienst des Hauses des Herrn an der Seite der Söhne Aarons verpflichtet sie vielmehr zur Aufsicht über die Höfe und Kammern, zur Reinigung alles Heiligen, zum Dienst im Haus Gottes." (AT, Chronik 23:28; https://www.bibleserver.com/text/EU/1.Chronik23) Es nimmt sich keiner selbst die Ehre. (NT, Hebräer 5:4; https://www.bibleserver.com/text/EU/Hebr%C3%A4er5)
Die Übertragung des Priestertums in der Neuzeit und der Vollmachtslinie von Johannes dem Täufer geschah, wie in der Lebensgeschichte  von Joseph Schmidt beschrieben: KP, JSLG 1:69; https://www.lds.org/scriptures/pgp/js-h/1?lang=deu)
Im Zusammmenhang mit dem Anstand ist besonders die Wirkung des priesterlichen Dienstes herauszustellen: "Und er (Jesus Christus) wird sitzen wie einer, der Silber schmilzt und reinigt, und er wird die Söhne Levi rein machen und sie wie Gold und Silber läutern ..." (BM, 3. Nephi 24:3; https://www.lds.org/scriptures/bofm/3-ne/24?lang=deu)
Ich möchte abschließend eine mir nicht aus dem Kopf gehende Frage auf einem alten Missionblättchen in Erinnerung bringen: "Warum gehst Du nicht am Sonntag mit Deiner Familie in Deine Kirche?" Wo könntest Du besser, wenn sie richtig aufgebaut ist und alle als Gemeinde in ihren jeweiligen Berufungen zusammenarbeiten, auch heute noch Anstand lernen? Ohne Glauben daran, dass alle Menschen Kinder Gottes sind, die sich später einmal vor ihm für ihr irdisches Leben rechtfertigen müssen, könnte ich nur schwerlich Anstand bewahren. 
p.s.  Auf einen kritischen Kommentar hin habe ich erklärend geschrieben: "Ich hatte das ZEIT-Essay gelesen und vermisste den Aspekt, Anstand zu üben. Meiner Meinung nach gibt es heute vor allem in der Kirchengemeinde mit einer Fülle von Kontakten in vertrautem Umfeld Gelegenheit, ihn zu üben. ... Als Familien besuchen wir uns heute nicht mehr so oft wie früher, als ich selbst noch Kind war. Diese Zusammenkünfte sind selbstverständlich auch Übungsfeld für Anstand. Wie aufmerksam begrüßt z.B. die Familie ihren Besuch besonders auch dann, wenn mehrere kommen? Ich beobachtete z. B. beim Eintreffen des zweiten Großelternpaars, dass die Kinder mit einem Computerspiel beschäftigt waren und deshalb nicht aufstanden um sich zum Wohnungeingang zu bewegen. Es genügte aber meine kurze Erinnerung: "Ihr solltet doch jetzt Eure Großeltern begrüßen", um sie in Bewegung zu setzen."

 

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